Neues Kapitel für Sexarbeit: EU plant einheitliche Regelung

Sexarbeit findet sich in allen Kulturen und Epochen wieder. Im Laufe der Zeit wurde Prostitution gesetzlichen Regelungen unterstellt. Wie diese aussehen, unterscheidet sich von Land zu Land. Das Europaparlament möchte das nun auf europäischer Ebene ändern.

Text: Sarah Aberer und Hanna Hager

Es ist Samstag. Hunderte Sexarbeiter:innen ziehen durch die Straßen Berlins. Was sie fordern? Mehr Schutz vor Gewalt.

Es ist Dienstag. Zahlreiche Männer und Frauen in ganz Frankreich haben sich auf den Straßen versammelt. Verkleidet, mit handgemachten Postern und verschiedenen Redner:innen haben sie ein Ziel: Dass jenes Gesetz, welches sie eigentlich schützen sollte, abgeschafft wird.

Allein hier zeigt sich, wie die Meinungen hinsichtlich der Regulierung von Prostitution auseinandergehen – selbst innerhalb der direkt Betroffenen. Geteilte Meinung herrscht auch auf politischer Ebene: unterschiedliche Länder, unterschiedliche Regelungen. Die europäische Union möchte dies nun ändern.

EU-Mitgliedstaaten unterliegen gewissen Richtlinien, die innerhalb des EU-Parlaments beschlossen werden. Meist obliegt die konkrete Umsetzung der Richtlinie dann den einzelnen Ländern. Mitte September 2023 sprachen sich die Abgeordneten des Europaparlaments nun für eine einheitliche Regelung für Sexarbeit innerhalb der EU aus. Angestrebt wird eine EU-weite Richtlinie nach Vorbild des sogenannten „Nordischen Modells“, welches unter anderem in Schweden, Norwegen und Frankreich gilt.

Laut dem EU-Bericht gäbe es zahlreiche Verbindungen zwischen Prostitution und organisierter Kriminalität wie beispielsweise Menschen- und Drogenhandel. Ein EU-weiter Ansatz solle garantieren, dass sich sich die Nachfrage nach Sexarbeit und der entsprechende Markt nicht in den nächsten Mitgliedsstaat verlagern könne. Zudem sollen so Frauenrechte über Grenzen hinaus sichergestellt werden, da die unterschiedlichen Regelungen innerhalb der Mitgliedstaaten Menschenhandel begünstige.

Das EU-Parlament stimmte mit 234 Stimmen für den Bericht, 122 enthielten sich, 175 Abgeordnete stimmten dagegen. Eingebracht wurde der Beschluss von Maria Noichl, Abgeordnete der sozialdemokratischen EU-Parlamentsfraktion S&D.

Was ist das Nordische Modell?

Das Nordische Modell sieht die Entkriminalisierung von Sexarbeiter:innen vor. Diejenigen, die Sex kaufen („Freier“) machen sich hingegen strafbar. Das Modell stützt sich auf vier Säulen:

Laut dem „Bündnis Nordisches Modell“ müssen alle vier Säulen (generationsübergreifend) etabliert, gut finanziert und ausgebaut werden. © Bündnis Nordisches Modell

Das Nordische Modell geht auf den sogenannten Abolitionismus zurück. Abolitionismus ist ein Begriff, der sich in verschiedenen sozialen Bewegungen wiederfindet und unter anderem die Prostitution gänzlich abschaffen möchte. Das Nordische Modell wird deswegen auch manchmal als abolitionistisches Modell bezeichnet.

Sexarbeit = sexuelle Gewalt?

Der grundlegende Gedanke hinter dem Nordischen Modell ist die Annahme, dass jede Form der Prostitution eine Form der sexuellen Gewalt darstellt. Befürworter:innen des Nordischen Modells wollen daher Sexarbeit nicht nur einschränken, sondern einen gesellschaftlichen Konsens herstellen, in dem Sexarbeit als sexuelle Gewalt und Hindernis für Geschlechtergleichstellung wahrgenommen wird. “Prostitution ist kein Beruf, sondern Gewalt”, sagt Huschke Mau, eine deutsche Aktivistin, die sich für die Abschaffung von Sexarbeit einsetzt.

Kritiker:innen des Nordischen Modells argumentieren, dass es auch Sexarbeiter:innen gäbe, die ihren Beruf gerne selbstständig ausüben wollen. So argumentiert beispielsweise Henrike Brandstötter (NEOS), dass in einer vielfältigen Gesellschaft nicht mit Verboten gearbeitet werden sollte. Gegner:innen des Nordischen Modells streben oft das genaue Gegenteil des Modells an, nämlich die völlige Entkriminalisierung und Liberalisierung von Sexarbeit.

Wo das Nordische Modell bereits gilt

Schweden verbot 1999 als erstes Land weltweit den Kauf von Sex. Norwegen folgte zehn Jahre später, Frankreich setzte das Nordische Modell 2016 um. Ein Jahr darauf folgte Irland und seit 2020 ist auch in Israel der Kauf sexueller Dienstleistungen strafbar.

Studien zufolge ist in Schweden die Nachfrage nach Sexarbeit infolge der Einführung des Nordischen Modells gesunken. Auch Straßenprostitution sei um die Hälfte zurückgegangen, so der EU-Bericht. Kritiker:innen verweisen darauf, dass Evaluierungen aus den verschiedenen Ländern unterschiedlich ausfallen. Zudem würde das Nordische Modell Prostitution nicht abschaffen, sondern Sexarbeiter:innen lediglich in die Illegalität treiben.

Hier sieht man die Beine einer Frau mit roten hohen Schuhen. Sie läuft eine Straße entlang, neben ihr fahren Autos. Es ist Nacht, im Hintergrund sieht man verschwommen die LIchter einer Stadt.
Studien zufolge hat sich Straßenprostitution in Schweden nach Einführung des Nordischen Modells halbiert. Kritiker:innen bemängeln, dass sich Sexarbeit lediglich ins Internet verlagert habe. © Rafalbloch

Wie ist die Lage zurzeit in Österreich?

In Österreich ist Prostitution grundsätzlich legal. Prostitution wird dabei als „das Anbieten sexueller Dienstleistung durch erwachsene Personen“ bezeichnet. Arbeitsrechtlich gesehen sind Sexarbeitende selbstständig. Sie sind einkommenssteuerpflichtig und sozialversichert. Laut einem Bericht der „Arbeitsgruppe Prostitution“ im Rahmen der Taskforce Menschenhandel, die von der Regierung ins Leben gerufen wurde, haben schätzungsweise 90-95% der registriert arbeitenden Sexarbeitenden in Österreich einen Migrationshintergrund.

Die Regulierung von Sexarbeit in Österreich ist nicht einheitlich. Grundsätzliche Fragen – etwa wer Sexarbeit ausführen darf, wo dies zulässig ist und wann – ist Landessache. So ist Straßenprostitution beispielsweise nur in Wien erlaubt. In allen anderen Bundesländern hingegen ausschließlich in genehmigten Bordellen. In Vorarlberg gibt es jedoch kein genehmigtes Bordell, daher ist Sexarbeit dort illegal. Auch in Bezug auf das Mindestalter unterscheiden sich die Bundesländer: In der Steiermark, Niederösterreich und Vorarlberg müssen Sexarbeiter:innen mindestens 19 Jahre alt sein, in allen anderen Bundesländern 18 Jahre.

In allen Bundesländern gemein ist, dass Sexarbeiter:innen sich zu Beginn ihrer Karriere einer Eingangsuntersuchung unterziehen und später alle 6 Wochen eine Kontrolluntersuchung machen müssen. Dabei werden sie in erster Linie auf Geschlechtskrankheiten und HIV-Infektionen untersucht. Dies dient ihrem eigenen Schutz und dem ihrer Kundschaft.

Arbeitsbedingungen: Gefahr und Schutz

Sexarbeiter:innen laufen Gefahr, an sexuell übertragbaren Krankheiten zu erkranken, wie etwa Herpes oder AIDS. Zudem erfahren Prostituierte häufig Gewalt. Diese kann in Form von physischer Gewalt auftreten – beispielsweise durch Schlagen oder Würgen. Es gibt auch Berichte von Frauen, die mit einem Messer bedroht wurden. Doch auch verbale Gewalt ist keine Seltenheit: Erniedrigungen, Beleidigungen und Drohungen können zu psychischen Beeinträchtigungen bei den Sexarbeitenden führen. In weiterer Folge tragen diese auch zu der geringen Anzahl an Anzeigen bei der Polizei bei. Sexarbeit wird darüber hinaus auch oft mit der Objektivierung von Frauen, der Verstärkung von Geschlechtshierarchien und dem Inbegriff von legaler Vergewaltigung in Verbindung gebracht.

Auf dem Bild sieht man eine junge Frau in einer rot ausgeleuchteten Seitengasse. Sie trägt hohe Schuhe und raucht eine Zigarette.
Unsicheres Umfeld: Sexarbeiter:innen erleben oft verbale und physische Übergriffe. © Yanlev

Die österreichische Bundesregierung hat hinsichtlich des prekären Arbeitsumfeldes von Prostitution Maßnahmen ergriffen. Seit 2009 existiert beispielsweise die „Arbeitsgruppe Prostitution“. Diese wird vom Frauenressort geleitet und arbeitet an Maßnahmen, die Ausbeutung im Rahmen von Sexarbeit vorbeugen sollen. Diese Maßnahmen und Empfehlungen werden dem Ministerrat alle drei Jahre auf Basis eines Berichts vorgelegt.

Das nordische Modell: Befürwortung aus Deutschland und NGOs

Eine große Befürworterin des nordischen Modells ist Leni Breymaier. Die SPD-Abgeordnete im deutschen Bundestag ist eine jener Personen, die die Debatte rund um das Sexkaufverbot auch innerhalb der Europäischen Union befeuert hat. Sie sieht in der Zwangsprostitution ein „Milliardengeschäft für kriminelle Banden“. Zwar gebe es sehr wohl Personen, die Sexarbeit freiwillig machen, dennoch werden zahlreiche Sexarbeiter:innen in ihren Menschenrechten verletzt.

Zwangsprostitution und Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung stehen im Widerspruch zu den Menschenrechtsprinzipien und sind mit der EU-Grundrechte-Charta unvereinbar.

Leni Breymaier

Auch die österreichische Initiative Stopp Sexkauf spricht sich für das nordische Modell aus. Sie spricht von einer gegenwärtigen „heuchlerisch, männer-zentrierten Politik“ und wirft dem Sexkauf die Degradierung der Frau vor und dass Frauen demnach zu aller Zeit sexuell verfügbar zu sein haben.

Dort [wo ein Sexkaufverbot herrscht: Schweden, Norwegen, Island etc., Anm.] dürfen junge Menschen mit der Selbstverständlichkeit aufwachsen, dass Frauen keine Objekte sind und Sexualität keine Ware ist.

Initiative Stopp Sexkauf

Frauenring: „Wollen nicht, dass Frauen in der Illegalität arbeiten müssen“

Der österreichische Frauenring sieht die Lösung der Probleme im Zusammenhang mit Prostitution hingegen nicht im nordischen Modell. In einem Interview mit der Vorsitzenden Klaudia Frieben kommt deutliche Kritik: „Ein Verbot würde für die Frauen die volle Illegalität bedeuten.“ Illegalität führt in weiterer Folge zu weniger Schutz für die Betroffenen: „Das würde bedeuten, dass sich vielleicht eine Sexarbeiterin nicht mehr registrieren lässt, dass sich eine Sexarbeiterin vielleicht nicht mehr zur Gesundenuntersuchung meldet.“ Zwar seien die offiziellen Zahlen in Folge des nordischen Modells in Schweden etwa zurückgegangen: Die Dunkelziffer der Sexarbeit sei jedoch gestiegen.

Zudem kritisiert Frieben, dass Sexarbeiter:innen nach wie vor stark stigmatisiert werden. Es gebe „sehr wohl“ Frauen, die freiwillig in der Prostitution tätig sind und wissen, was sie tun. Dies solle man anerkennen. Viele sehen es als „persönliche Dienstleistung“ und zahlreiche Frauen „machen das, weil sie sich ihre Existenz damit absichern.“ Würde man das nordische Modell einführen, so würde dies für die Sexarbeitenden einem Berufsverbot gleichkommen.

Weiters kritisiert Frieben, das nordische Modell denke nicht weit genug. „Ausstiegsmöglichkeiten, wie kommen die [Sexarbeiter:innen, Anm.] in ein anderes Leben wieder hinein und so – das ist ja alles in diesem Modell überhaupt nicht irgendwo angedacht.“ Außerdem führt sie an: „Was man beim Sexkaufverbot natürlich auch nicht vergessen darf: Was ist mit der Sexassistenz zum Beispiel für behinderte Menschen? Das würde ja dann auch strafbar sein, nicht? Will man denen ihr Recht wegnehmen?“

Der Frauenring positioniert sich nicht nur gegen das nordische Modell, sondern in aller Deutlichkeit auch gegen Gewalt an Frauen und den Menschenhandel. Dies durch ein Sexkaufverbot zu bekämpfen, sieht Frieben jedoch als fragwürdig. Ist Sexarbeit legal, so könne man den Betroffenen auch legal helfen und schützen.

Frieben betont auch die Wichtigkeit, mit den Betroffenen selbst zu sprechen. „Es wird immer über sie gesprochen, aber nie mit ihnen.“ Ähnliches fordert auch die Berufsvertretung Sexarbeit Österreich (BSÖ): Sie möchte mehr Mitspracherecht bei den Gesetzen. Außerdem spricht sie sich ebenfalls „strikt gegen das nordische Modell“ aus und fordert eine „legale Anerkennung von Sexarbeit als freien Beruf.“

Positionen der österreichischen Parteien

Von den österreichischen Sozialdemokrat:innen stimmte Evelyn Regner für den Beschluss der EU zum Nordischen Modell, die meisten anderen Abgeordneten der Fraktion enthielten sich, oder stimmten nicht ab. Auch die Abgeordneten der ÖVP stimmten nicht ab. Alle drei Abgeordneten der FPÖ stimmten gegen den Bericht, ebenso zwei Drittel der grünen Abgeordneten.

Die österreichischen Grünen stehen dem Nordischen Modell somit großteils kritisch gegenüber. Die Grünen Frauen Wien kritisieren das Nordischen Modell stark. So ist Grünen-Politikerin und EU-Abgeordnete Dr. Monika Vana der Meinung, dass der Bericht des Europaparlaments weit davon entfernt sei, zum Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter beizutragen. “Kriminalisierung von Kund:innen sexueller Dienstleistungen treibt Sexarbeiter:innen weiter in die Illegalität, wie auch zahlreiche NGOs bestätigen”, sagt Vana auf Anfrage der Redaktion. Laut ihr sollen Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Anerkennung und Schutz von Sexarbeiter:innen entwickeln und konkret gegen Diskriminierung dieser Gruppe vorgehen. Dafür sollen auch Mittel der EU-Fonds herangezogen werden.

Die Parlamentsabgeordnete Henrike Brandstötter (NEOS) betont, dass es ihr und der liberalen Partei Österreichs wichtig sei, dass jede:r die Möglichkeit hat, sein Leben selbst zu bestimmen. Sie nennt ebenso das Beispiel der Sexualassistenz für Menschen mit Behinderungen, von denen sie befürchtet, sie könnten von einem generellen Verbot der Sexarbeit ebenso betroffen sein. Man müsse aber jede Form der sexuellen Ausbeutung, des Missbrauchs und der Zwangsprostitution bekämpfen und Betroffenen Unterstützung und Perspektive geben.

Die Redaktion hat ÖVP, SPÖ und FPÖ ebenso zu dem Thema angefragt, aber keine Antwort erhalten.

Hinweise zur Bebilderung
  • Beitragsbild: „Money and young woman in hotel room as a symbol of prostitution, modern slavery and human trafficking. Human trafficking and the hotel industry concept.“ stock.adobe.com – triocean
    Bild 1: Bündnis Nordisches Modell
    Bild 2: „Shapely female legs in high heels on the street against the background of the lights of moving cars.“ stock.adobe.com – rafalbloch
    Bild 3: „red-light street“ stock.adobe.com – yanlev